Die Weisheit „Gestorben wird immer“ mögen manche als zynisch bezeichnen, ist aber nach wie vor Realität, wenn gleich Forscher an der Unsterblichkeit des Menschen zu rütteln versuchen. Doch bis die Unsterblichkeit Wirklichkeit werden sollte, braucht es Friedhöfe, um der Herrschaft des Todes mit Ruhestätten für die Verstorbenen Tribut zu zollen – gerade in einer prosperierenden Metropole wie Leipzig. Der Südfriedhof der Stadt reicht nicht aus, alle Toten zu beherbergen, auch wenn seine parkähnliche Ausdehnung ihn zu den drei größten Begräbnisstätten Deutschlands krönt. Um allen Verstorbenen eine Ruhestätte bieten zu können, sind auch in den Leipziger Stadtteilen Friedhöfe erforderlich. Einer davon findet sich in Plagwitz und ist damit nur ein Friedhof unter etlichen. Doch sticht er durch eine Besonderheit unter den gewöhnlichen heraus.

Wenn man ihn nicht kennt, ist der Friedhof zu Plagwitz leicht zu übersehen. Er liegt etwas versteckt am Ende der Stockmannstraße gleich neben den Gleisen der Bahn und teilt damit das Schicksal anderer Begräbnisstätten, die mitunter an Schnellstraßen oder Flughäfen liegen, die zu ihrer Gründung nicht einmal geplant waren. Der Plagwitzer Friedhof wurde im Jahre 1880 eingeweiht und weist eine Fläche von viereinhalb Hektar mit etwa dreitausend Grabstellen auf.

Was diesen Gottesacker so besonders macht, sind die vielen verschiedenen Kunstwerke, die dort zu bemerken sind. Man stolpert geradezu über die menschliche Schaffenskraft oder kann sie an der Mauer oder auf dem Rasen betrachten. Initiiert von Leipziger Künstlerinnen und Künstlern und dem Evangelisch-Lutherischen Friedhofsverband kommt jedes Jahr neue Kunst hinzu. Inzwischen finden sich hier über vierzig Malereien, Skulpturen und Installationen.

Die Kunst auf dem Friedhof ist vielfältig wie die Schar der Künstler, die sie geschaffen hat. Die einen gebrauchen Pinsel und Farbe, andere Eisen und Schrauben oder Plexiglas und einen Koffer. Ein Kunstwerk sticht ins Auge, weil es einfach nicht zu übersehen ist – jenes mit Eisen und Schrauben. Dieses Kunstwerk hört auf den Namen „Babel“ und wurde von dem Metallbildhauer Christian Schmit erschaffen. Seine Kunst wiegt schwer. „Babel“ weist ein Gewicht von etwa zwei Tonnen auf, ist fast sechs Meter hoch und erinnert ein wenig an eine riesige fleischfressende Pflanze.

Ein weiteres ungewöhnliches Kunstwerk ist jenes mit dem Koffer und einer Scheibe aus Plexiglas, wie man sie in Eishallen vermuten würde. Man muss die Intention der Künstlerin nicht verstehen, das Kunstwerk jedoch weckt Erinnerungen an ein bekanntes Lied von Marlene Dietrich, das da lautet: „Ich habe noch einen Koffer in Berlin.“ Andere haben einen in Plagwitz auf dem Friedhof.

Vor lauter Kunst fürchten manche, dass die Toten zu kurz kommen könnten. Aber so ist das nicht. In Plagwitz haben es selbst die Verstorbenen schön. Auch die Natur nutzt diesen Friedhof als Heimstatt. Bäume und Sträucher zieren das weitläufige Areal. Wo die Flora blüht, ist die Fauna nicht weit. Die üblichen Verdächtigen tummeln sich hier, und das sind nicht nur Amsel, Drossel, Fink und Star und die auf jedem Friedhof krächzenden Raben und Krähen. Selbst Katzen fühlen sich bei den Toten so richtig heimisch. Eine fällt besonders wegen ihrem orangefarbenen Fell ins Auge. Nur nicht im Herbst. Wenn sie zu dieser Jahreszeit auf dem Pflaster vor der Kapelle kauernd von goldfarbenem Laub umgeben ist, wird sie leicht übersehen. Der schöne Kater hört auf den Namen Rüdiger. Seit August 2020 ist er jedoch nicht mehr aufgetaucht und wird schmerzlich vermisst, spendete er doch auf dem Friedhof Trauernden verlässlich Trost.

Wegen der Katzen müssen auch Mäuse und Vögel die Augen aufhalten. Der Mensch kann mit geschärftem Blick und etwas Glück einen winzigen Vogel mit hochgestrecktem Schwänzchen über die Grabsteine hüpfen sehen. Es ist der Zaunkönig. Der ist schwer zu entdecken, im Frühling jedoch nicht zu überhören. Klein an Größe hat er eine laute wie unüberhörbare Stimme.

Die Geschichtsbewussten kommen ebenso auf ihre Kosten. Und sie werden bei dem ein oder anderen Grabstein in Staunen versetzt, selbst wenn dort nicht der Name eines großen Prominenten zu entdecken ist. Wendet man sich nach dem Eingang gleich nach links an die Mauer des Friedhofs, sind zwei Grabstätten zu finden, deren Inschriften Aufmerksamkeit erregen. Einer davon ist ein „Held“ des Ersten Weltkriegs, der hier unter der Erde ruht. Er hörte auf den Namen Franz Büchner und fand im März 1920, zwei Jahre nach dem Waffenstillstand, den Tod. Büchner war ein mit der Tapferkeitsauszeichnung „Pour le Mérite“ geschmückter Jagdflieger, der im Krieg über französischem Boden vierzig Luftsiege gegen alliierte Flieger errungen hatte. In seiner Heimatstadt Leipzig wurden ihm im Verlaufe des „Kapp-Putsches“ deutsche Spartakisten zum Verhängnis, die ihn bei einem Erkundungsflug über der Stadt abschossen. Ein Angehöriger des Fliegers starb im Jahre 1936. Er hörte auf den Namen Georg Büchner und ist nicht mit dem gleichnamigen Schriftsteller zu verwechseln. Dieser Büchner starb bereits mit zwölf Jahren. Auf seinem Grabstein steht geschrieben: „Schüler der Thomasschule, ein deutscher Junge erschossen im Dienste für sein Vaterland.“ Sein Tod jedoch war tragisch und die Umstände nicht so verlaufen, wie es der blumige Text vermuten lassen würde. In der Uniform eines Hitlerjungen starb Georg bei einem Unfall während einer militärischen Übung. Bereits in diesem Alter begann der Drill. Für Georg Büchner endete er tödlich.

Auf dem Friedhof finden sich auch Gräber prominenter Bürger der Stadt. Einer davon war Ernst Mey. Er gründete 1870 in Leipzig eine Stoffwäschefabrik, die vor allem für die Herstellung von Herrenkragen bekannt wurde. 1903 fand Ernst Mey seine letzte Ruhestätte auf dem Plagwitzer Friedhof.

Rudolph Sack ist ein weiterer Verstorbener, der bereits zu Lebzeiten Rang und Namen hatte. Mit den Herrenkragen eines Ernst Mey hatte er nichts am Hut. Sacks Zuneigung galt guter sächsischer Erde und der zu ihrer Bearbeitung notwendigen Gerätschaften. In Leipzig stellte er Pflüge maschinell her und zeitigte damit großen Erfolg. Sack verfügte über einen ausgedehnten Grundbesitz, an den noch heute das sogenannte „Jahrtausendfeld“ in Leipzig-Lindenau erinnert. Im Jahre 1900 wurde Rudolph Sack in Plagwitz begraben.

Der Plagwitzer Friedhof ist ein Besuch wert, ob man seinen verstorbenen Angehörigen einen Besuch abstattet, nach Katzen oder Zaunkönigen Ausschau hält, Kunst betrachten will oder den Herren Mey und Sack die Ehre erweisen möchte. Man muss diesen außergewöhnlichen Friedhof nur finden.

Bildquellen: Foto 1-3 von Dennis Wetzel, Mitglied der Redaktion Eindruck, der Kater Rüdiger auf Bild 4 mit freundlicher Genehmigung von Herrn Jürgen Süß, dem Leiter des Plagwitzer Friedhofs.

Herrn Süß und Herrn Alfred Otto Paul, profunder Kenner der Leipziger Sepulkralkultur, verdanke ich Informationen zum Schicksal von Georg Büchner.

Der Friedhof in Plagwitz – von Toten, Kunst und bunten Katzen
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