Der Bahnhof Leipzig-Plagwitz im Wandel der Zeiten (II)

Die enge Verbindung des Plagwitzer Bahnhofs mit dem Wachsen und Werden des gesamten Stadtteils blieb auch im zwanzigsten Jahrhundert bestehen. Mit dieser Entwicklung schienen sie durch alle Verwerfungen der Zeit hindurch ein gemeinsames Schicksal zu teilen.

Ab den 1920er Jahren waren die Entwicklungsmöglichkeiten für Plagwitz und Lindenau nahezu ausgereizt. Der Standort Plagwitz entsprach nicht mehr den Standortbedingungen moderner Großproduktion. Nicht nur im Revier stagnierte die Entwicklung, ähnlich war die Lage für den Bahnhof. Zwar führte man den preußischen mit dem sächsischen Teil zusammen, doch blieb es eine Station in Randlage.

Neue Infrastruktur fordert Tribut
Die mit dem Hauptbahnhof entstandenen neuen Eisenbahnstrecken hatten sich bewährt und machten den Personenverkehr nach Gaschwitz überflüssig. Auf der Verbindungsbahn Plagwitz – Connewitz stellte man 1925 den Betrieb vollkommen ein. Der Straßenverkehr nahm durch die Fortschritte der Fahrzeugtechnik rasch an Bedeutung zu, was manche skurriklen Blüten hervorbrachte. So beantragte die aus dem Heineschen Imperium hervorgegangene Westend-Baugesellschaft im Jahr 1935 die Zuschüttung des Karl-Heine-Kanals, um eine Schnellstraße als Autobahnzubringer errichten zu können. Auch die sich rasch verbreitende Nutzung elektrischer Maschinen machte zahlreiche Plagwitzer Betriebe unabhängig vom eigenen Dampfmaschinenbetrieb und den damit verbundenen Brennstofflieferungen per Eisenbahn.

Der Leipziger Hauptbahnhof auf einer historischen Postkarte

Der 1915 eröffnete Leipziger Hauptbahnhof, einer der europaweit größten Bahnhöfe, auf einer zeitgenössischen Postkarte

Inflation und Weltwirtschaftskrise boten keinen guten Nährboden für die wirtschaftliche Weiterentwicklung von Plagwitz, zudem machte sich der allgegenwärtige Platzmangel bemerkbar. Doch die Auftragsbücher Plagwitzer Unternehmen waren, nicht zuletzt durch die gesteigerte Rüstungsproduktion der 1930er Jahre, gut gefüllt. Davon zeugt heute noch das markante „Stelzenhaus“ am Karl-Heine-Kanal. Grohmann & Frosch, spezialisiert auf Verzinkarbeiten und Stahlhochbau, erweiterten 1937 ihren Produktionsstandort in Richtung Uferböschung mit einer aufwändigen Stützpfeilerkonstruktion. Mit ihr konnte gleichzeitig eine Anbindung an die Weißenfelser Straße geschaffen werden. Der Gleisanschluss an den Plagwitzer Industriebahnhof genügte dem 1888 gegründeten Alt-Plagwitzer Unternehmen nicht mehr.

Das Stelzenhaus in Leipzig-Plagwitz

Aufwändige Pfeilerkonstruktion wegen Platzmangels: Das so genannte ‚Stelzenhaus‘ am Karl-Heine-Kanal

Auch die Lebensbereiche Wohnen und Arbeiten blieben im Plagwitzer Industrierevier weiterhin eng verzahnt. Mit 112 Industrieschornsteinen auf einem Quadratkilometer hielt sich die Wohnqualität in engen Grenzen, Verunreinigungen des Grundwassers durch Schwefelsäure und Petroleum schafften ebenfalls seit geraumer Zeit Probleme.

Die Kriegsschäden in Plagwitz waren ungeachtet der ansässigen Rüstungsbetriebe gering. Schwerwiegendere Auswirkungen hatte die unmittelbare Nachkriegszeit mit Enteignungen und Demontagen, mit dem Weggang von Spezialisten und dem gezielten Abzug von Know-How.

Für den Abtransport technischer Anlagen als Reparationsleistung für die Sowjetunion erlangte der Plagwitzer Bahnhof zeitweise neue Bedeutung. Als Industriebahnhof an einem dicht bebauten Produktionsstandort stieg er zu einer der fünf zentralen Sammelstellen in der Sowjetischen Besatzungszone auf.

Schwieriger Neubeginn
Nicht allein die Demontagen bremsten den Neuanfang. Die Leipziger Wirtschaft litt nach dem Krieg an der Abschnürung der bisherigen Handelswege. Auch das Fehlen internationaler Wirtschafts- und Handelspartner machte sich negativ bemerkbar. Mit dem ersten Fünfjahrplan setzte man 1951 den Schwerpunkt der Entwicklung für Plagwitz auf den Maschinenbau und die Schwerindustrie.

Ungeachtet aller planwirtschaftlichen Zwänge, der Abwanderung von Fachkräften und fehlender Investitionen blieb Plagwitz wichtiger Produktionsstandort. Mit den Verstaatlichungswellen gliederte man kleine Firmen größeren zu und konzentrierte die Standorte. Damit einher ging eine Ausdünnung des einst dichten Netzes an Anschlussgleisen. Dennoch lief der tägliche Betrieb auf dem Plagwitzer Industriebahnhof nahezu unvermindert weiter.

Durch die Elektrifizierung der Verbindung von Leipzig-Leutzsch nach Gaschwitz erfolgte im Jahre 1963 die letzte größere bauliche Veränderung des Plagwitzer Industriebahnhofs. Der Güterring im Norden war mit dem Hauptbahnhof und den Rangierbahnhöfen Engelsdorf und Wahren bereits in den 1920er Jahren ans Netz gegangen. Für den Plagwitzer Bahnhof änderte sich ebenfalls wenig, als im Juli 1969 die Leipziger S-Bahn auf ihrem herzförmigen Rundkurs um die Messestadt startete.

Anschlussgleis in Leipzig-Plagwitz

Typische Plagwitzer Hinterhofszene im Herbst 1989 (Quelle: Wikimedia)

Stagnation und Verfall
Anfang der 1970er Jahre strukturierte man die DDR-Wirtschaft neu. Chemische Großbetriebe prägten in Leuna und Bitterfeld das Bild. Die Zukunftsbranche Mikroelektronik konzentrierte man in und um Dresden. Politisch favorisierte Branchen waren in Leipzig nicht zu finden. Maschinenbau und Schwerindustrie dominierten weiterhin die Industrieproduktion. Daraus resultierte auch ein unterdurchschnittliches Abschneiden bei Investitionsprogrammen. Der allgegenwärtige Investitionsstau ging mit einer Überalterung der Produktionsanlagen einher, die zunehmend auf Verschleiß gefahren wurden.

Hinterhof in Leipzig-Plagwitz

Anschlussgleis, Hinterhof, Kleingewerbe: Eng verflochten waren die Lebensbereiche Arbeiten und Wohnen (Quelle: Wikimedia)

Bei den Wohngebieten sah die Entwicklung nicht anders aus. Mit dem angrenzenden Neubaugebiet Leipzig-Grünau begann ab 1975 eine Entflechtung des engen Nebeneinanders von Wohn- und Produktionsstandorten. Für Wohnbauten in Plagwitz selbst änderte sich damit wenig, die Sanierung von Altbaugebieten konzentrierte sich auf andere Stadtbezirke. Es erfolgte kaum Werterhaltung an den Wohngebäuden. Bereits 1964 galt ein Drittel des Plagwitzer Wohnungsbestandes als „nicht zumutbar“. Ähnlich verschlissen war auch die Infrastruktur mit ihren Anliegerstraßen und Anschlussgleisen. Die DDR hatte die Plagwitzer Probleme geerbt und verwaltet, ohne sie grundlegend zu ändern.

Ungeachtet planwirtschaftlicher Hemmnisse und fehlender Investitionen gehörten zahlreiche Plagwitzer Traditionsfirmen zu den wichtigsten Betrieben der DDR. Im Jahr 1989 gab es in Plagwitz 800 Betriebe, davon 40 Großbetriebe mit insgesamt 20.000 Beschäftigten. Unter ihnen der Schwermaschinenbau S. M. Kirow, der nach radikaler Neuausrichtung noch heute zu den profitablen Betrieben vor Ort gehört.

Weniger gut erging es dem VEB Bodenbearbeitungsgeräte als Nachfolger der Traditionsfirma Rudolf Sack oder den zahlreichen Betrieben der Textilindustrie. Eine erste Bestandsanalyse nach der Wende konstatierte bei zwei Dritteln der Unterrnehmen einen hohen Verschleiß der Produktionsanlagen und bei 90 Prozent fehlende Entwicklungsmöglichkeiten in der Fläche. Kein leichtes Erbe für einen Neustart unter marktwirtschaftlichen Bedingungen.

Der erste Teil des Beitrags zeichnet die Anfänge der industriellen Erschließung nach.
Der dritte Teil widmet sich dem Plagwitzer Bahnhof in der Zeit nach der politischen Wende.

Bildquelle: Wikimedia/Redaktion EinDruck

Abbruch, Aufbruch, Stagnation
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