oder eine Institution und ihre Nutzer
Von Büchern und Türmen
Wer viele Bücher hat braucht Platz – ob im heimischen Wohnzimmer oder in einer Bibliothek. Da die Nationalbibliothek in Leipzig beauftragt ist, „alle Medienwerke in Schrift, Bild und Ton, die seit 1913 in und über Deutschland oder in deutscher Sprache veröffentlicht werden“ zu sammeln, benötigt sie besonders viel davon. Wer den Roman „Der Name der Rose“ kennt, weiß um den mächtigen Bücherturm, der zahlreiche Werke der damaligen mittelalterlichen Welt aufbewahrte – im Vergleich zu unserer Zeit ein überschaubarer Bestand. Heute hat die Nationalbibliothek allein etwa 16 Millionen Bücher in ihrem Besitz. Und täglich werden es mehr.
Die Bücher werden in Magazintürmen aufbewahrt. Diese sind ungleich moderner als jener im Roman vom Umberto Eco, entfalten jedoch den Charme von Getreidesilos, sahen aber vor dem Umbau vor zehn Jahren mit der Büchertransportanlage noch unansehnlicher aus. Die Magazinräume mit einer Fläche von 10.600 Quadratmetern verfügen über eine Kapazität von fünf Millionen Einheiten und sollen die Publikationen der nächsten beiden Jahrzehnte in unter- und oberirdischen Stockwerken aufnehmen.
Darüber hinaus wurde im Zuge der sogenannten „Vierten Erweiterung“ der Leipziger Nationalbibliothek ein Gebäude errichtet, das sich unmittelbar neben den Türmen befindet. Es beherbergt das „Deutsche Musikarchiv“ und das „Deutsche Buch- und Schriftmuseum“. Die Architektin hatte die Idee, das Dach des Museums in einer Form zu bauen, die an ein Buch erinnert. Etwa hundert Meter weiter befindet sich der Eingang für die Nutzer der Bibliothek zu den Lesesälen.
Eine Einrichtung dieser Bedeutung benötigt Wächter. Über dem Hauptportal prangen Büsten von Bismarck und Goethe, die ein scharfes Auge darauf haben, welch erlauchtem Kreis es erlaubt sein soll, den Büchertempel zu betreten. Hat man diese erste Prüfung überstanden, lauert sogleich eine weitere. Uniformierte Bedienstete übernehmen die weltlichen Sicherheitsvorkehrungen, die Menschen ohne Benutzerausweis den Zutritt verwehren. Der Ausweis jedoch ist zur Zeit kostenfrei, die Bibliothek erhebt zumindest bis zum April 2022 keine Gebühr für ihre Nutzung.
Eine Baustelle mitten im Krieg
Die Geschichte der Nationalbibliothek beginnt kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Träger der Einrichtung waren der Börsenverein der Deutschen Buchhändler, die Stadt Leipzig als bedeutende Verlagsstadt und das Königreich Sachsen. Sie einigten sich im Jahre 1912 auf den Namen „Deutsche Bücherei.“ Die Verlage in Deutschland verpflichteten sich, Belegexemplare ihrer gesamten Produktion der Bücherei kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Im frühen Herbst 1913 war der Grundstein gelegt worden. Die Bauarbeiten fanden zeitweilig mitten im Krieg statt und wurden für so bedeutend eingestuft, dass es weder an Arbeitern noch an Material mangelte. Im September 1916 feierte das Hauptgebäude am Deutschen Platz Einweihung. Sachsens König Friedrich August III. ließ es sich nicht nehmen, dabei zu sein und unterstrich damit die Einzigartigkeit der Einrichtung. Schließlich wurde eine Bibliothek geschaffen, die die gesamte Literatur des damaligen seit 1871 geeinten Deutschlands sammeln und bewahren sollte, um der jungen Nation auch eine kulturelle Identität zu ermöglichen. Der Name „Deutsche Bücherei“ trug diesem Vorhaben Rechnung.
In den Nachkriegswehen stand die Bibliothek kurz vor der Schließung. Die Finanzen des ganzen Landes waren zerrüttet, die Bevölkerung plagte der Hunger, und die Grippe grassierte. Wer Not leidet, verschwendet kaum einen Gedanken an eine Aufbewahrungsstätte für Bücher. Trotz aller Sorgen und Bedenken bestand die Deutsche Bücherei weiter fort. Zunächst half die finanzielle Unterstützung der neugegründeten Weimarer Republik, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Im Jahre 1923, inmitten einer Inflation von verheerendem Ausmaß, vereinbarten das Land, der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig, den Etat der Bücherei zu sichern, so dass deren Existenz nicht mehr in Gefahr geriet.
Den Nazis gab die Bibliothek Prestige. Das hielt sie nicht davon ab, während ihres Regimes ab 1937 Juden den Zutritt zur Bücherei zu untersagen. Darüber hinaus wurde eine „Gesamtliste der unerwünschten Literatur“ angelegt und diese Bücher einer Nutzungsmöglichkeit entzogen. Es herrschte Zensur, ohne dass vor Ort Bücher verbrannt wurden.
Auch in der Deutschen Demokratischen Republik wurde Literatur unter Verschluss gehalten, die den Herrschenden verdächtig erschien. So entstanden Listen mit Büchern, die als „faschistisch“ oder „militaristisch“ eingestuft wurden. Spötter sprachen vom sogenannten „Giftschrank“, in dem diese Werke den Blicken der Öffentlichkeit entzogen waren. Bücher „pornographischen Inhalts“ erlitten das gleiche Schicksal.
Nach der deutschen Teilung wurde in Frankfurt am Main im Jahre 1947 eine Bibliothek errichtet, die den gleichen Anspruch wie ihr Pendant in Leipzig hatte und auf den Namen „Deutsche Bibliothek“ getauft wurde. Im Zuge der Wiedervereinigung blieben beide Institutionen bestehen, verknüpft mit einer Reduzierung des Personals. Im Jahre 2006 benannte man sie in „Nationalbibliothek“ um. Auf diesen Namen hört sie auch heute noch.
Lesesäle so groß wie Kirchen
Im Hauptgebäude stehen den Nutzern mehrere Lesesäle zur Verfügung. Der größte im Erdgeschoss ist stolze zehn Meter hoch. Manche fühlen sich an eine Hallenkirche erinnert. Der Duft ist etwas muffig, aber nicht unangenehm, er ähnelt dem in einem Theater hinter der Bühne. Der ganze Saal wirkt wie in eine Kulisse getaucht, auch Filmregisseure hätten ihre Freude am wechselnden Spiel von Licht und Schatten, ob sie nun den Thriller „Illuminati“ oder einen Tatort drehten. Auf den hölzernen Schreibtischen sind Lampen mit grünen Schirmen befestigt. Bei grauem stürmischen Wetter verströmt das matte Licht einen Hauch von Düsternis, ähnlich der Bücherei eines mittelalterlichen Klosters.
Jeder Nutzer ist zu stiller Arbeit verpflichtet. Aufsichten achten mit scharfem Blick darauf, dass die Regeln eingehalten werden. Pausenbrote am Tisch sind strengstens verboten, selbst Wasserflaschen treiben den Wächtern die Zornesröte ins Gesicht.
Andere Lesesäle der Bibliothek sind weniger frequentiert, bieten jedoch ebenso gute Arbeitsbedingungen. Einer davon ist der „Bauhaus-Saal“ im Erdgeschoss auf dem rechten Flügel des Hauptgebäudes. Wie im Hauptsaal befindet sich auch hier ein Handapparat mit Büchern, die sich meist mit Naturwissenschaften befassen. Eine Wendeltreppe führt ein Stockwerk höher. Sieht man, durch eine verchromte Balustrade geschützt, nach unten auf die Tische, erregen langhälsige Leselampen Aufmerksamkeit. Die Atmosphäre wirkt etwas unterkühlt, den Namen hat der Saal den Stühlen zu verdanken, die als „Freischwinger“ bezeichnet werden. Das sind Stühle ohne Hinterbeine, deren Sitzflächen unter dem Gewicht der Sitzenden federnd nachgeben. Diese Stühle wurden in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Zeit der Bauhaus-Epoche geschaffen und zeigen ein erstaunliches Stehvermögen, denn laut der Bibliothek gab es bisher keinen Anlass, sie auszutauschen. Entworfen hat sie der berühmte Architekt und Designer Marcel Breuer.
Ein weiterer Saal soll nicht unerwähnt bleiben, der Musik-Lesesaal im ersten Stock, ausgestattet mit schneeweißen Möbeln und einem flauschigen Flokatiteppich. Hier lässt es sich wohlig lesen und forschen. Und wer musizieren möchte, heißt man ebenso willkommen. Unter der Tischplatte befindet sich eine Klaviatur. Noten gibt´s beim Personal.
Man lebt nicht nur vom Buch allein
Wer nach Forschen und Musizieren eine Stärkung benötigt, muss wieder runter ins Erdgeschoss. Dort befindet sich die Kantine des Hauses. Nutzer wie Angestellte können aus einem täglich wechselnden Angebot an Mahlzeiten wählen. Die einen loben die Qualität der Küche, andere murmeln böse Worte, manche vermissen ihre Buchstabensuppe aus Kindheitstagen.
Gleichgültig, welche Genre den Nutzern Fragen aufwerfen, die Nationalbibliothek zu Leipzig hält die passende Antwort bereit. Über vierzig Millionen Medienwerke befinden sich in ihrem Besitz, und minütlich steigt die Menge der Medien um acht Werke an. Eine Stadtbücherei kann eine Auswahl treffen, die Nationalbibliothek nicht. Laut ihrem Auftrag muss sie alles sammeln; ob Bestseller oder chronischer Ladenhüter, die Comic von Asterix oder Ratgeber für das Leben in allen Lebenslagen. Nur in den Weiten des Internets darf sie wählerisch sein. So werden die Websites bedeutender Medien und Institutionen archiviert und in einem bestimmten Rhythmus aktualisiert.
Ausgeklügelte Technik und fleißige Menschenhände bringen die Bücher aus den Türmen auf die Tische der Nutzer. Einer von vielen war ich und schrieb vor zehn Jahren einen historischen Roman. Der Titel lautete „Besser, wenn Du gehst“. In der Bibliothek nahm ich den Titel nicht wörtlich und blieb.
Die Handlung spielte in drei Epochen deutscher Geschichte; dem Ersten Weltkrieg, der Weimarer Republik und während der ersten sieben Jahre unter dem Regime der Nazis. Die Personen der Geschichte waren meiner Fantasie entsprungen, die historischen Ereignisse, die sie durchlebten jedoch nicht. Um meine Kenntnisse zu vertiefen, war spezielle Literatur erforderlich, die in der Nationalbibliothek lückenlos zur Verfügung stand.
Von Menschen, Macken und Gefühlen
Wer in einer öffentlichen Bibliothek forscht und schreibt, muss mit der Präsenz anderer Menschen zurechtkommen, die ebenso forschen und schreiben wollen. In der Nationalbibliothek herrscht ein ständiges Kommen und Gehen und mitunter auch Tuscheln. Wer sich seiner Konzentration beraubt fühlt, fährt mit dem Schreiben im stillen Kämmerlein besser. Allerdings muss er sich für das traute Heim die nötige Literatur besorgen können. Die Nationalbibliothek ist keine Leihbücherei.
Auch das andere oder wahlweise das eigene Geschlecht sind der Konzentration auf Forschung und Arbeit nicht immer förderlich. Die Nationalbibliothek ist ein Sammelbecken attraktiver Damen und Herren. Tauchen sie auf, heben manche ihre Köpfe, andere starren tapfer auf Bildschirm und Bücher. Wagemutige knüpfen Kontakte und fahren mitunter in den Hafen der Ehe ein. Kenner sprechen von der „geheimen Erotik des Lesens.“
Mit Federkiel und Kerze
Autoren unserer Tage haben Hilfsmittel zur Hand, die Schriftsteller früherer Epochen bitter entbehrten, hätten sie diese nur gekannt. Bei Kerzenschein mit Federkiel und müden Augen große Geschichten zu Papier zu bringen, war eine Respekt einflößende Leistung. Wie behielten Schriftsteller bei einer Vielzahl beschriebener Blätter die Übersicht? Wie wurde damals ein Manuskript korrigiert und zur Druckreife gebracht? Trotz aller Mühen schrieb Goethe mit Tinte und Feder den „Faust“ und Tolstoi schuf „Krieg und Frieden.“
Das Buch (in) der Zukunft?
Von Tolstois „Kritzeleien“ auf rauem Papier bis zur Erfindung des E-Books war es ein weiter Weg. Viele schreiben, obwohl es zunehmend an Leserinnen und Lesern zu mangeln scheint. Auch in der Zukunft werden Menschen ihre Gedanken zu Papier bringen oder auf den Bildschirm bannen und ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Erwächst dem Schriftsteller durch künstliche Intelligenz eine ernst zu nehmende Konkurrenz? Noch stochern wir im Trüben, werfen jedoch einen furchtsamen Blick zum Schach, dem König aller Spiele. Hoffen wir, dass beim Schreiben der Mensch Sieger bleiben wird.
Kleines Resümee
Etwa zwei Jahre saß ich am Buch – den Großteil davon in der Nationalbibliothek und habe es nicht bereut. Schreiben ist Arbeit. Die Bibliothek war mir hierbei eine verlässliche Stütze. Im Laufe von über hundert Jahren gaben sich Studenten, Forscher, Gelehrte und Schriftsteller die Klinke in die Hand. Hoffen wir, dass sie dies auch in Zukunft tun und die Säle mit Leben erfüllen, ohne dabei laut zu sein, damit die Nationalbibliothek bleibt was sie ist: eine der renommiertesten Institutionen Leipzigs und des ganzen Landes.
Quellen:
Bild 1: Wikipedia von User Appaloosa
Bild 2: Dennis Wetzel von der Redaktion Eindruck http://www.dennis-wetzel-fotografie.de/
Bild 3: Auch diese Aufnahme ist von Dennis Wetzel
Grafik: Mit freundlicher Erlaubnis der Deutschen Nationalbibliothek
Tolstois Notizen sind gemeinfrei, da die urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.
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Spannender artikel zu einem wichtigen ort!