Nach dem bereits im ersten und zweiten Teil viel Erzählenswertes über die Produktion von Seitenwagen in Leipzig und deren Verbreitung auf unseren Erdball erörtert wurde, soll vorläufig abschließend der Fokus auf andere Leipziger Seitenwagenhersteller gelegt werden und die Kategorie Sport mit einbezogen werden. Zum Schluss wird das wechselhafte Verhältnis in einer Gegenüberstellung zweier in Leipzig benannter Straßen, welche mit Seitenwagenproduktion zu tun haben, gezeigt werden um auch die Verantwortung, welche die nachfolgenden Generation zu tragen haben, zu verdeutlichen. Denn wie der Schriftsteller und Philosoph George Santayana vor über hundert Jahren bereits ausführte:

Diejenigen, die sich nicht an die Vergangenheit erinnern können, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen“.

Seitenwagenherstellung in Leipzig vor dem Zweiten Weltkrieg

Neben der bereits im ersten Teil der Serie erwähnten Produktion der Firma Stoye Fahrzeugbau gab es in Leipzig noch weitere Hersteller von Seitenwagen wie folgt zu zeigen sein wird. In diesem Abschnitt sollen nun die unterschiedlichen Pioniere der lokalen Seitenwagenherstellung in und um Leipzig kurz vorgestellt werden.

Verkaufsanzeige Archiv C. Hüne.

Zwischen 1909 und 1939 produzierte die in der Leipziger Südvorstadt ansässige Firma Ahlborn Junior Leipzig (kurz AJL) Seitenwagen für Motorräder. Als Adressen sind die Kaiserin Augusta Straße 35 b – die heutige Richard-Lehmann-Straße sowie die Elisenstraße 12 – die heutige Bernhard-Göring-Straße zu benennen. Hergestellt und verkauft wurden desweiteren Autotransport- als auch Campinganhänger. Ein weiterer wichtiger Bereich der Firmentradition war seit jeher die Herstellung von Kegelbahnen, welche bis heute in Leipzig durch die Ahlborn Kegel- und Bowlingbahnbau GmbH im Stadtteil Alt-Lindenau ungebrochen fortgesetzt wird. In einem dreifarbigen Verkaufsprospekt der Saison 1937/38 sieht man die sechs Seitenwagengrundtypen, welche entweder in Aluminium oder Stahl, mit Vierpunktanschluss entweder mit verchromter Felge und Bremsnabe oder ohne, mit Rahmen aus eckigen Profilen oder Rundrohr, mit oder ohne Kofferraum sowie in den verschiedensten Formen angeboten wurden (Vgl. Knittel/Vollmar: Seite 40).

Desweiteren konnte ein in einer Hülle verstautes zurückschlagbares Limousinenverdeck, welches bereits vor 80 Jahren die Allwettertauglichkeit von Seitenwagenmotorrädern belegte, dazu geordert werden.

Werbeschild Archiv C. Hüne.

Darüber hinaus wurden auch Rennseitenwagen sowie Lieferseitenwagen – Seitenwagen für Sonderzwecke – hergestellt. Der sehr leichte Sportseitenwagen Kanu ähnelte in Form und Gestaltung sehr seinem Stoye Konkurrenten aus dem Dösner Weg 19 in der Nähe des Bayrischen Bahnhofs in Leipzig. AJL Seitenwagen konnten entweder rechts oder links an das Motorrad angebracht werden. Mit Umstellung auf Kriegsproduktion im Zuge des Zweiten Weltkriegs sowie dem Tod Herrmann Ahlborns als Luftwaffenpilot im September 1941 endete schließlich die Produktion von Seitenwagen während der Kriegszeit.

Auschnitt aus Brief Archiv P. Kalisch.

Anfang der 1930er Jahre verkaufte die Firma ARKI-Fahrzeugbau Arthur Kirchhoff Seitenwagen für links- und rechtsseitigen Anschluss. Dank des Leipziger Motorradinteressierten Patrick Kalisch, welcher mit der Seite www.motorräder-aus-leipzig.de sämtliche Informationen zu Motorradherstellern aus Leipzig aber auch Herstellern von Seitenwagen versucht zusammenzutragen, ist ein Antwortschreiben der Firma von Arthur Kirchhoff öffentlich zugänglich, in dem einem Interessierten ein Angebot für einen Seitenwagen gemacht wird. Auf dem Briefkopf des Schreibens vom 17.4.1933 ist ein dem Stoye Seitenwagen dieser Zeit ähnelndes Exemplar abgebildet. Fahrgestell, Schutzblech und Beleuchtung sind mit dem Stoyeseitenwagen identisch. Leider ist nicht so viel zu erkennen und es finden sich keine weiteren Quellen zu dieser Firma.

Verkaufsanzeige Archiv C. Hüne.

„Juwel – der Seitenwagen für verwöhnte Fahrer“ so heißt es in einer Zeitschriftenannonce von 1938. Die Juwel Seitenwagen wurden von Alfred Jockisch in den Jahren 1929 bis ca. Ende 1940 in Leipzig-Mockau hergestellt. Auf Prospekten und in Adressbüchern lassen sich insgesamt drei bzw. vier Adressen des Inhabers der Motorrad-Zubehör-Fabrik Alfred Jockisch ausmachen (Vgl. Knittel/Volmar: 1989). Zunächst in der Mockauer Straße 9 bzw. 55 findet sich eine Meldung im Jahr 1938 und weiter in der Immelmannstraße 6 bis 8, diese wurde als unterer Teil der Rosenowstraße im Jahr 1947 selbiger einverleibt. Die Nummerierung in Form der Hausnummer 6 bis 8 wurde hingegen beibehalten. Im Adressbuch von 1949 ist Alfred Jockisch unweit der beiden ersten Adressen in der Bochumer Straße 1 in Mockau gemeldet. Alle drei bzw. vier Meldeadressen befanden sich im Nordosten Leipzigs im Stadtteil Mockau.

2020 tauchte diese Plakette in Belarus auf. Archiv M. Wermes.

Juwel Seitenwagen konnten laut Prospekt für links- und rechtsseitigen Betrieb geliefert werden. Verbaut wurden sie unter anderem an BMW (Eisenach), DKW (Zschopau), Mabeco (Berlin), Opel-Motoclub (Brand Erbisdorf) und Tornax (Wuppertal) Motorrädern. Es gab sehr leichte Modelle wie den S 10 (das Sportmodell S 11 bezeichnete die Linksläuferversion davon), welcher mit 40 kg gut geeignet war für sportliche Fahrer als auch einen LS 15 und 16, welche sich mit von außen zugänglicher Kofferraumklappe als Reisegefährte in der oberen Preisklasse befanden. In einer 1936 erschienenen Verkaufsanzeige wird das Modell S 25 (35 kg leicht) für 190 RM angeboten. Das Modell „Zwilling“ sei hingegen für „Familie und Wehrsport-Verbände geeignet.“ Im 1937er Verkaufsprospekt setzt sich die Bezeichnung der Juwel Seitenwagen fort und es werden u.a. die Modelle 25 bis 30 vorgestellt. Die Modelle 27 bis 30 konnten als „a“ Version desweiteren mit Schwingachse geordert werden (Vgl. Reese 2011). Die Firma Alfred Jockisch baute nicht nur formschöne Seitenwagen, sondern war auch stets auf neue technische Entwicklungen und Seitenwagenkonzepte bedacht. So wurde in der Mitte der 1930er Jahre mit einem um 15 cm verbreiterter Doppelsitzerseitenwagen experimentiert – fast 40 Jahre vor dem niederländischen Hersteller EML welcher Doppel- bzw. 1,5 Sitzer seit Beginn an an großvolumige und leistungsstarke japanische Motorräder wie die der Honda GL Reihe baute. Jockischs Doppelsitzer sollte es mit oder ohne separaten Kofferraum geben.

Pendelgespann von Alfred Jockisch. Teilausschnitt aus Zeichnung. Quelle: Franitza: 1988.

Die Messepräsentation 1938 eines Pendelseitenwagens gipfelte am 25.1.1940 mit der Patentschrift 688112. Der Juwel Pendelseitenwagen „der Beiwagen der Zukunft“, so laut einem Prospektblatt von 1938, wurde leider nie in Großserie gebaut (Vgl. Reese 2011). Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde aus der Seitenwagenfabrik ein Rüstungskonzern. Ob tatsächlich nach Kriegsende noch Seitenwagen hergestellt wurden, konnte bisher nicht eindeutig belegt werden, wird aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen sein, obwohl Ende der 1940er Jahre noch ein solcher Eintrag im Leipziger Adressbuch zu finden ist.

Verkaufsanzeige Archiv C. Hüne.

In der Zschocherschen Straße 37 soll um die Jahre 1929 und 1930 eine Firma namens Krause Touren- und Sportseitenwagen in Zeppelinform hergestellt haben. In einer Anzeige von 1930 sieht man einen Linksseitenwagen dessen Boot eine Holzgerippekonstruktion mit spitzem Heck aufweist. Die Abfederung erfolgte durch C-Federn. Weitere Informationen zu diesem Seitenwagenhersteller konnten bis auf diese eine Anzeige nicht ermittelt werden.

Zwischen 1929 und 1934 wurden in der Alexanderstraße 11 in Leipzig (Zentrum-West) Seitenwagen durch die Firma Mozet-Apparatebau produziert bzw. verkauft. Der recht unbekannte Hersteller von Seitenwagen setzte alle seine Niederflurkarosserien auf Stahl, C-Federung und bot neben achteckigen Sportausführungen auch Sonnenlimousinen mit Rolldach, Schiebefenster und sogar wahlweise Auspuffheizung an. Warum der Hersteller Anfang der 1930er Jahre wieder so schnell verschwand wie er in die Welt trat, ist bisher unbekannt. So gewann Mozet am 22. August 1933 schließlich noch den Ehrenpreis des NS-Schönheitswettberb in Leipzig für seine Luxus Limousine, in welcher unter einem Rolldach ein Kind und Elternteil bequem Platz fanden.

Verkaufsanzeige Archiv C. Hüne.

Das besondere an der auf einem Holzgestell montierten Karosserie war das relative geringe Gewicht dieses Familienseitenwagens von nur etwa 70 kg (Vgl.: Artikel „Reisebeiwagen“. In: Motorrad Gespanne Nr. 16 September 3/92.). Wie oft dieser Seitenwagen dann tatsächlich gebaut wurde, lässt sich heutzutage nicht mehr nachvollziehen. Entscheiden konnte man sich angeblich zwischen zwei Varianten. Im Jahr 1932 wurde an der Motorradwinterzielfahrt erfolgreich teilgenommen. So viele Gespannfahrer_innen scheint dieser Luxusseitenwagen dennoch nicht überzeugt zu haben, was vielleicht auch an dem hohen Preis von 485 Reichsmark ohne Seitenwagenbremse gelegen haben mag (Vgl. Reese: 2011 und ebd.).

Verkaufsanzeige Archiv C. Hüne.

Die Firma Superia welche in einer Verkaufsanzeige der Zeitschrift Das Motorrad Heft 20 vom 18.5.1929 den Bau bzw. Verkauf von Seitenwagen bewirbt- leider ohne Abbildung-bleibt wahrscheinlich noch lange ein Rätsel. Vertrieb bzw. Verkauf der Fahrzeugbau und Reparaturanstalt sollte durch einen Herbert Reichmeister in der Dimpfelstraße 37 in Leipzig Schönefeld erfolgen. Mehr war bisher über diese Firma nicht herauszufinden.

Werbeprospekt Archiv P. Kalisch.

Eine weitere Firma welche Seitenwagen baute und in Leipzig in der Lutherstraße 11 verkaufte ist der Fahrzeugbau Oswald Uhlig Eilenburg, welcher dort in der Kranoldstraße 23 seine Produktion hatte. Auf einem frühen Prospekt heißt es Meine jahrelangen Erfahrungen als Mitarbeiter in [der] Fa. Fahrzeugbau Stoye-Leipzig haben dieses Fahrzeug zu einem Produkt reifen lassen, das Sie mit einem guten Gewissen Ihren werten Kunden anbieten können. Im Sortiment befanden sich zunächst ein günstiger Sport- sowie ein Reisewagen. In einem weiteren Prospekt sind die Typen V-Leicht, SV-Sport sowie RV-Reise präsentiert. Wie viele der Seitenwagen aus Eilenburg verkauft wurden, konnte bisher nicht erschlossen werden. Bilder zweier Uhlig Seitenwagen auf Prospekten sind auf der Internetseite www.motorräder-aus-leipzig.de dokumentiert.

Gespanneinsatz im Sport: Stadtpark- und Sandbahnrennen

Seit Beginn der Produktion von Seitenwagen in Leipzig hat deren Erprobung und Einsatz auch und gerade im sportlichen Bereich stattgefunden. So startete Walter Stoye mit seinem späteren Firmenkompagnon Johannes Mittenzwei mit dem ersten selbstgebauten Seitenwagen bereits am 26.7.1925 beim Preis der neuen Leipziger Zeitung. Knapp 25 Jahre später fand dann das Stadtparkrennen Rund um das Scheibenholz in Leipzig statt. Durch die Teilnahme an einem solchen Rennen konnten Stoye und Mittenzwei  bei den Mitgliedern des Leipziger Motorradclubs einen großen Eindruck hinterlassen. Zwei Jahre später fuhr „Hans“ Mittenzwei mit einer 350er Schütthof (Chemnitz) mit seiner Ehefrau Käthe im Seitenwagen bereits weitere Erfolge ein, was die Reputation von Stoye in den dreißigern Jahren maßgeblich vergrößerte. In den folgenden Jahren begannen andere große deutsche Motorradhersteller bzw. Rennsportabteilungen und Rennfahrer_innen sich für Stoye Seitenwagen zu interessieren (Vgl. Mittenzwei: 2010) und der Motorradrennsport mit Seitenwagen gewann zunehmend an Popularität.

 Starter beim sechsten Stadtparkrennen in Leipzig 1954 © Renate und Roger Rössing Deutsche Fotothek.

Neben Leipzig fanden auch in anderen deutschen Großstädten Stadtparkrennen statt, selbstverständlich auch unter reger Beteiligung von Motorrädern mit Seitenwagen. So zum Beispiel in Hamburg Nord im Stadtpark zwischen 1934 und 1952 und in Braunschweig nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1948 und 1951. Eine ausführliche Dokumentation zum Hamburger Stadtparkrennen befindet sich auf der Seite www.motorevival.de. In der 1953 erschienenen Chronik zum fünfzigsten Jubiläeum des Automobilclubs München wird besonders betont, dass gerade nachdem Krieg diese in Städten stattfindenden Motorsportveranstaltungen die Zuschauer_innen sehr begeisterten und es zu einem regen Besuch dieser Wettbewerbe kam. In Leipzig sollen bei manchen Rennen bis zu 250.000 Zuschauer_innen anwesend gewesen sein so Bert Hähne und Gerhard Otto in ihrem Artikel über Leipziger Motorsport (Weit mehr als ein Nervenkitzel – Leipziger Motorsport zwischen 1950 und 1990) im Sammelband Leipzig Automobil – Geschichte, Geschäfte und Leidenschaft welcher 2020 bei den Leipziger Blättern veröffentlicht wurde. Das mag sicherlich auch an den spektakulären sportlichen Einlagen der sogenannten Schmiermaxen, den Beifahrer_innen in den nur aus wenig Material gefertigten Sportseitenwagen gelegen haben. Nicht unerwähnt sollte jedoch sein, dass diese Rennen Mitte bis Ende der 1950er Jahre in Ost und West auch ein Ende fanden, weil manche Rennfahrer_innen bei diesen Rennen tödlich verunglückten.

Ein Tribut an den Gott der Geschwindigkeit oder trauriges Resultat der Selbstüberschätzung mancher weniger? Jedenfalls wurde den tödlich Verunglückten nach ihrem Tod nicht selten gedacht, davon zeugen Beileidsbekundungen in den Rennprogrammen nachfolgender Rennsaison und in Zeitschriften bzw. Erinnerungen von Rennfahrern.

Rechtskurvenfahren 1953 in Leipzig beim 5. Leipziger Stadtparkrennen © Renate und Roger Rössing / Wikipedia [CC BY-SA 3.0 de].

In der Schweiz sorgte ein Leipziger Rennfahrer bereits in den frühen 1930er Jahren für Aufsehen auf einem Motorrad mit Seitenwagen. Karl Reese schreibt in seinem 2011 erschienenen Seitenwagenbuch, dass der Leipziger Gespannrennfahrer Köhler 1934 erfolgreich beim Klausenpassrennen startete. Zugmaschine war eine Motosacoche (Genf/Schweiz) mit einem Stolz Seitenwagen aus Berlin-Neukölln. Das zwischen 1922 und 1934 stattfindende Bergrennen galt damals als das gefährlichste seiner Art in Europa. Auf dem über 20 km langen Kurs mussten insgesamt 136 Kurven auf 1237 m Höhenunterschied überwunden werden. Im Jahr 2018 fand ein interessierter Gespannfahrer im Süden Leipzigs im Keller zwei Fragmente des Stolz Rennseitenwagen „Rennspezial“, welcher umgangssprachlich nur Rennpantoffel genannt wurde, da er hinten offen und ohne Kofferraum war und lediglich eine Polsterung anstatt eines Sitzes hatte. Von weitem sieht er in der Tat wie ein Pantoffel aus und der sogenannte Schmiermaxe, welcher im Seitenwagen kniete, konnte lediglich auf die Polsterung und die beiden seitlichen Blattfedern als Federung vertrauen, die Radachse war starr am Fahrgestell geklemmt, der obere Seitenwagenschnellanschluss immerhin gummigelagert. Dem Autor dieses Textes wurden die beiden Fragmente schließlich anvertraut und es wird zukünftig die Frage zu klären sein, wer eventuell diese Rennseitenwagen in Leipzig in den 1930er bis 1950er Jahren noch gefahren sein könnte. Bis 1936 sollen bei In- und Auslandsrennen insgesamt 3000 Siege mit Seitenwagen von Stolz (Berlin-Neukölln) eingefahren worden sein, so Reese 2011. Da die beiden Stolz Seitenwagen im hinteren Bereich recht eigenwillig umgebaut sind, geht der Autor davon aus, dass sie eventuell noch in den 1950er Jahren als Rennseitenwagen verwendet worden sind. Einer zivilen Nutzung widerspricht das Fehlen einer Rückenlehne bzw. Kofferraum – aufgrund der Größe ist ebenso eine Transportnutzung auszuschließen. Der Stolz Rennspezial wog leer lediglich 28 kg und kostete Anfang der 1930er Jahre 285 Reichsmark, was damals relativ günstig war. Ein Stück Leipziger Seitenwagenrenngeschichte mit vielen Fragen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fand das Stadtparkrennen in Leipzig lediglich nur noch zwischen 1950 und 1958 statt – insgesamt zehn mal, da 1952 mit dem Internationalen motorsportlichen Vergleichskampf der Freundschaft quasi zweimal gefahren wurde.  Beim Rundkurs Rund um das Scheibenholz rangen selbstverständlich nicht nur Autos und Solomotorräder mit ihren Fahrer_innen um sportlichen Erfolg, sondern auch Motorradgespanne – was auf zeitgenössischen Bildern sehr eindrucksvoll festgehalten wurde. So fuhr zum Beispiel der bekannte Leipziger Seitenwagenrennfahrer Harry Gusinde bei den Rennen mit, aber auch internationale Gäste aus Australien (Vgl. „Motoren heulen im Clara-Zetkin-Park auf“) waren mit am Start. Selbstverständlich beteiligten sich auch westdeutsche Fahrer rege am sportlichen Wettkampf um Erfolg, so zum Beispiel 1954 Willi Faust und Karl Remmert aus Fulda auf BMW (München) Gespann beim sechsten Leipziger Stadtparkrennen 1954. Harry Gusinde im 2020 erschienen Sammelband Leipzig Automobil dazu:

„Ab Mitte der 1950er Jahre holten die West-Fahrer mehr und mehr die ersten Plätze, sie hatten die neuen Maschinen, wir Ostler Vorkriegsware und Eigenbauten“ (Zit. auf Seite 164) .

Bilder dieser motorisierten Rennfahrer_innen wurden oft von Student_innen der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst zu Übungszwecken erstellt. Immer wieder tauchen einzelne Fotographien und ganze Alben mit Fotographien vom Leipziger Stadtparkrennen bei Antikmärkten auf. Nicht wenige Bilder dieser Rennen sind auch in der Deutschen Fotothek archiviert. Der Leipziger Fotograph Roger Rössing dokumentierte gemeinsam mit seiner Frau Renate in über fünf Jahrzehnten Leipziger Stadtgeschichte und somit auch diese Sportveranstaltungen. Mit über 90 Veröffentlichungen und dem fotografischen Nachlass, welcher in der Deutschen Fotothek durch ein Projekt der Bundeskulturstiftung gefördert und archiviert wurde haben die beiden ihrer Heimatstadt ein Denkmal gesetzt, wenn auch ein teilweise kritisches. Ihre letzte Ruhestätte fanden beide in einem imposaunten Grabmahl auf dem Südfriedhof in der Nähe des Völkerschlachtdenkmals. Lesen Sie dazu auch den spannenden Artikel Der Südfriedhof – ein Reich der Toten im Herzen der Stadt meines Kollegen Frank Wündsch.

Linkskurvenfahren 1951 in Leipzig beim 2. Leipziger Stadtparkennen © Renate und Roger Rössing / Wikipedia [CC BY-SA 3.0 de]

Auf der Seite der Deutschen Fotothek kann man unter der Stichwortsuche des Namens und „Stadtparkennen“ einige Bilder des Rennens Rund um das Scheibenholz begutachten. Darüber hinaus haben die Rössings auch zahlreiche weitere Bilder von Motorrädern mit und ohne Seitenwagen auf den Straßen Leipzigs abgebildet. So zum Beispiel anlässlich des Zweiten Deutschen Turn- und Sportfests am 2. bis 5. August 1956 in Leipzig. Auf dem Bild sieht man Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (kurz FDJ) auf Simson AWO (Suhl) 425 mit Stoye Seitenwagen Modell SM/TM.

Bereits seit den 1930er Jahren fanden in Leipzig darüber hinaus an verschiedenen Orten auch Sand- bzw. Grasbahnrennen mit Seitenwagenmotorrädern statt. Seit 1976 ist der Motorsportclub Post im Motodrom am Cottaweg 2 zu Hause (erster DDR Meisterschaftslauf der 1. und 2. Liga) und veranstaltet bis in die jetzige Zeit Sandbahnrennen für spezielle Speedwaygespanne. Laut Eigenaussage wurde der MC Post Ende der 1950er Jahre als Betriebssportverein gegründet. Zunächst fanden solche Speedwayrennen im Küchenholz und auf der Trabrennbahn in Panitzsch statt. Mindestens sieben Sandbahnrennen fanden noch bis 1953 in Panitzsch bei Leipzig statt. Mike Otto betont in seinem Artikel über die am 8. Juni 1930 eingeweihte kombinierte Pferde- und Motorradrennbahn in Panitzsch, dass in den 1950er Jahren in den Seitenwagenklassen fast die gesamte Rennfahrerelite an den Start ging (Vgl. Mike Otto: 80 Jahre Sandbahn Leipzig – Panitzsch).

Junge Gespannrenneninteressierte 2019 bei den Gespann-Masters am Cottaweg. Archiv M. Wermes.

Leider wurde der Rennbetrieb genauso wie beim Stadtparkrennen Ende der 1950er Jahre eingestellt. Aufgrund der zwischenzeitlichen Umnutzung in den letzten Jahrzehnten ist eine erneute Inbetriebnahme in Panitzsch in absehbarer Zeit unmöglich geworden. Weitere Informationen und spannende Geschichten um die Sandbahn in Panitzsch befinden sich in der Festschrift Panitzsch – zum 750. Jahrestag der Ersterwähnung, welche 2017 von Jens Bulisch und Reinhard Freier veröffentlicht wurde und im Internet frei einsehbar ist. Am 7. September 2019 fanden nunmehr die dritten Gespann-Masters am Cottaweg in Leipzig statt. Fahrer_innen aus der Bundesrepublik, Belgien und den Niederlanden lieferten sich ein erbittertes aber faires Rennen. Unter dem Dachverband des ADAC organisiert und dank Hilfe einiger Sponsoren und vor allem freiwilliger Helfer_innen konnte der MC Post den Motorsportbegeisterten einen spannenden und aktionsgeladenen Renntag ermöglichen.

Späte Ehrerbietung: Stoye Straße in 04155 Leipzig

Kurz nach der Umbenennung noch mit provisorischer Folie. Archiv M. Wermes

 

Claus Hüne bei der Umbenennung, neben ihm die Tochter von Walter Stoye. Archiv M. Wermes

Seit 2018 gibt es in der Nähe des letzten Leipziger Produktionsstandortes eine Stoyestraße. Diese wurde am 29. September 2018 in Anwesenheit der Tochter von Walter Stoye symbolisch eingeweiht. Die Umbenennung eines Teilabschnitts der Halberstädter Straße nordwestlich der Kreuzung Lindenthaler Straße geht auf einen Stadtratsbeschluss mit der Beschlussvorlage VI-DS-05361-NF-05 (mit Lageplan und Erläuterung des Lebenslaufs Walter Stoyes) vom 31. Mai desselben Jahres zurück. Amtlich bekannt gegeben wurde die Straßenumbenennung am 16.6.2018 und wurde einen Monat später bestandsfähig. Inkraftgetreten ist die Umbenennung am 1.8.2018.

Dass die Straßenumbenennungen Leipzigs gerade in letzter Zeit von so manchem nicht kommentarlos hingenommen werden, zeigt ein im August 2020 erschienener Kommentar in der Leipziger Internetzeitung. Die Frage ist eben auch immer, wer bzw. was als erinnerungswürdig gilt, in welchem Kontext und zu welchem Zeitpunkt Umbenennungen erfolg(t)en. In der  Ende der 1940er Jahre entstehenden DDR wurden aus gutem Grund eindeutig negativ konnotierte Straßennamen ersetzt und das im Gegensatz wie einige vielleicht meinen nicht nur durch neue der Zeit verhafteten Vorbilder. So wurde beispielsweise 1947 die Straße, in welcher sich die Firma Alfred Jockisch befand, in Rosenowstraße umbenannt. Durch die Erfahrungen des Kriegs und dem deutschen Faschismus war der sozialdemokratische Dramatiker und Kulturhistoriker Emil Rosenow, welcher im 19. Jahrhundert seine überwiegende Schaffenszeit hatte nun erinnerungswürdiger als ein als 25 jähriger Jagdflieger und Luftkriegpionier tödlich verunglückter Max Immelmann. Die richtige Lehre aus den Verfehlungen deutscher Geschichte!

Stammstraße in Reudnitz

Foto Archiv M. Wermes.

Im Juli 1947 wurde die ehemalige Adalbertstraße in Leipzig Reudnitz in Stammstraße umbenannt. Namensgeber ist der 1892 geborene Ernst Alfred Stamm. Dieser war – zunächst in der SPD – später KPD Betriebsrat in der Firma Stoye und wurde 1934 verhaftet. Gemeinsam mit seiner Frau und weiteren Angeklagten wurde er wegen Hochverrat zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt und danach ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo er 1944 starb bzw. ermordet wurde. Was aus dem gemeinsamen Kind Elsa Martha und Ernst Alfred Stamms wurde, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Auf der Fotografie unten sieht man die letzte 1. Mai Demonstration von 1934, die noch stattfand auf der eventuell Ernst Aflred Stamm mit abgebildet sein könnte. Das Gebäude hinter der Mauer existiert nicht mehr, wohl aber der Baum auf der Johannisallee.

In Leipzig Reudnitz haben sich verschiedene Menschen zusammengefunden, denen hingegen der Straßenname als Erinnerungsmarker in Bezug auf die Verbrechen der Nationalsozialist_innen der 1930er und 1940er Jahre nicht genügt. Das Anliegen der Gruppe Kritisches Reudnitz ist es, jeweils einen Stolperstein vor das ehemalige Wohnhaus von Elsa Martha und Ernst Alfred Stamm zu verlegen.

Nachwort

Ich hoffe meine Ausführungen zum Thema Motorräder mit Seitenwagen in und aus Leipzig haben Ihnen wieder sehr viel Freude bereitet und Ihr weiteres Interesse geweckt. Die Redaktion und ich würden uns über eine Reaktion sehr freuen. Leider musste 2020 das Seitenwagentreffen am Cottaweg pandemiebedingt abgesagt werden. Aber wenn alle gesund bleiben und die Begeisterung der Dreiradtreiber_innen in und um Leipzig weiterhin so stark bleibt, sehen wir uns sicherlich wieder dieses Jahr im Herbst zum Gespanntreffen der Stoye Freunde Leipzig. Noch ein kleiner Trost zum Schluss. Zumindest konnte 2020 der Gutshofs e.V. seine geplante Gespannausfahrt durchführen, welche auch wieder auf großen Zuspruch stieß.

Weitere interessante und erzählenswerte Geschichte(n) könnten hier zukünftig die anderen sächsischen, mitteldeutschen und Berliner Seitenwagenhersteller, erhaltene und bewegte Fahrzeuggeschichte auf drei Rädern in Sachsen und Blechschaltmotorroller mit Seitenwagen in und um Leipzig sein. Wenn Sie diesbezüglich weitere Vorschläge haben, kommentieren Sie ruhig unterhalb des Artikels! Wir würden uns sehr darüber freuen.

Ganz herzlich möchte ich mich noch bei den Motorrad- und Gespannbegeisterten Patrick Kalisch (Motorräder aus Leipzig), Claus Hüne (Stoye Fahrzeugbau Leipzig),  Walter Wilke (Oldtimerfreunde Grosspösna) und Claus Uhlmann (www.die-rt125.de) für ihre Unterstützung vor allem aber für ihren klugen, kritischen und sachverständigen Rat bedanken! Ohne die vielen mal ernsten, mal eher spaßigen Gespräche mit euch hätte ich nicht die Motivation gehabt diese Artikelserie zu Ende zu führen! Danke!

Verwendete Literatur und Quellen (chronologisch angeordnet):

George Santayana: The Life of Reason: The Phases of Human Progress. Reason in Common Sense. 1905. Seite 284. Originalzitat (engl.): „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it”.

Stoye Seitenwagen Modelle 1937 [Prospektblatt].

Martin Franitza: Seitenwagen und Gespanne. 1905 – 1985. Band 1. Erding. 1986.

Martin Franitza: Seitenwagen und Gespanne. Pendel-Gespanne. Band IV. Erding. 1988.

Stefan Knittel und Klaus Volmar: Deutsche Seitenwagen-Motorräder von Adler und BMW bis Triumph und ZÜNDAPP. München. 1989.

Artikel „Reisebeiwagen“ Seite 52 bis 55. In: Martin Franitza: Motorrad – Gespanne Zeitschrift Nummer 16. September 3/92. Eichendorf. 1992.

Tanja von Fransecky: Zwangsarbeit in der Berliner Metallindustrie 1939 bis 1945. Eine Firmenübersicht. Eine Studie im Auftrag der Otto Brenner Stiftung. Berlin. 2003.

Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW. München. 2006.

Johannes und Kät[h]e Mittenzwei: Erinnerungen eines alten Motorradfahrers. Berlin- Bohnsdorf. 2010.

Karl Reese: Deutsche Seitenwagen von 1903 bis 1960. Lemgo. 2011.

Dieter Kürschner: Totschweigen ist die passive Form von Rufmord: Leipziger politische Opfer des Nationalsozialismus 1933-1945. Leipzig. 2016.

Jens Bulisch, Reinhard Freier et. al.: Panitzsch – zum 750. Jahrestag der Ersterwähnung. Leipzig. 2017.

MC Post Leipzig e.V. Ortsclub im ADAC Sachen: Flyer und Rennprogramm Finale Gespann-Masters & ADAC Speedway Rennen am 7. September 2019.

Bert Hähne und Gerhard Otto: Weit mehr als ein Nervenkitzel – Leipziger Motorsport zwischen 1950 und 1990. In: Leipzig Automobil – Geschichte, Geschäfte und Leidenschaft. Leipzig. Passage Verlag. 2020.

Beitragsbild: Gespann-Masters 2009. Startnummer 42: Joachim Martens und Des Vanzonhoven aus Belgien. Archiv M. Wermes.

Abkürzungsverzeichnis:

ADAC: Allgemeiner Deutsche Automobil-Club e. V.

BMW: Bayrische Motorenwerke.

EML: Seitenwagenhersteller. Niederländisch „Eigen Make(n) Lij“ für „Selbst gemacht“ (eigene Übersetzung).

EMW: Eisenacher Motorenwerke (Produktion bis 1955).

FDJ: Freie Deutsche Jugend. Jugendorganisation in der DDR.

MC Post: Motorsportclub Post.

MZ: Motorradwerk Zschopau.

Eine Antwort

  1. Volker

    Schöner und gehaltvoller Abschluss der Triologie. Auf dass es weiter Generationen gibt, die sich mit so viel Leidenschaft für Motorräder mit Seitenwagen interessieren und fahren.

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