Karl Heinz Mai als Dokumentar seiner Stadt

Die Menschen merkten auf, wenn sie ihn sahen, denn dieser Mann schien aus dem Rahmen der damaligen Zeit gefallen zu sein. Kriegsversehrte, die in einem Rollstuhl saßen, waren kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nichts Außergewöhnliches, viele Tausend andere teilten sein Schicksal. Dass er einen Fotoapparat in der Hand hielt und Bilder schoss, erregte jedoch Aufsehen.

Karl Heinz Mai hieß der Mann, der die Menschen zum Raunen brachte, wenn er in den Ruinen seiner Heimatstadt Leipzig unterwegs war. Denn die Fotografie schien eine Beschäftigung zu sein, für die die meisten seiner Zeitgenossen weder Zeit geschweige denn Muße zu haben glaubten, da ihr Alltag vom Kampf ums tägliche Überleben geprägt war.

In der Vermutung, dass nach dem Krieg die Motive eines Fotografen auf Staub, Schutt und Trümmer beschränkt sein müssten, hielt Mai besonders jene Menschen im Bild fest, die in dieser wüsten Umgebung ihr Leben fristeten. Wer dem Fotografen damals begegnet war, staunte nicht nur wegen seiner für die damalige Zeit ungewöhnlichen Tätigkeit. Mai war mit einem Gefährt unterwegs, welches unwillkürlich ins Auge stach.

Es war ein Rollstuhl auf drei Rädern, ein sogenannter „Selbstfahrer“, den er durch die Muskelkraft seiner Arme in Bewegung setzen konnte. Bereits im Jahre 1941 hatte er beim Angriff auf die Sowjetunion beide Beine verloren und war zwei Jahre später nach langem Aufenthalt im Lazarett nach Leipzig zurückgekehrt. Doch auch dort holten ihn der Krieg und seine Bomben wieder ein. Das Haus, das er mit seinen Eltern bewohnte, wurde beim Luftangriff im Dezember 1943 zerstört. Die Familie musste nach Niederwiesa bei Chemnitz ziehen, um endlich Frieden vor dem Krieg zu finden.

Seiner Beine beraubt, suchte Mai nach einer sinnstiftenden Beschäftigung und fand sie in der Fotografie. Als Autodidakt sammelte er erste Erfahrungen, indem er mit der Kamera die letzten Kriegstage in Niederwiesa aufnahm. Als endlich Frieden herrschte, zog die Familie zurück nach Leipzig. Dort drängte es Mai auf die Straße, denn nur hier entdeckte er die Motive, die er auf seinen Bildern zu verewigen suchte. Bevorzugt fotografierte er Kriegsheimkehrer, Trümmerfrauen und Kinder. Bat er um Erlaubnis, ein Foto machen zu dürfen, wurde sie in der Regel gewährt. Der freundliche Mann in seinem eigentümlichen Fortbewegungsmittel weckte Vertrauen, gerade bei Kindern, die es gewohnt waren, dass Erwachsene auf sie herabzuschauen pflegten. Der Fotograf Mai jedoch, in seinem Rollstuhl sitzend, befand sich mit ihnen auf Augenhöhe.

Dem schmalen Jungen mit dem dichten Haarschopf und den schmutzigen Schuhen begegnete er im Jahre 1946. Das Brett, das der Bub über der Schulter hielt, war viel größer als er selbst. In der Not der damaligen Zeit hatte er Holz als Brennstoff gesammelt. Der darauffolgende Winter würde lang und frostig sein; selbst Kinder mussten Hand anlegen und Vorsorge tragen, um nicht zu frieren und das nächste Frühjahr erleben zu dürfen.

Zuerst waren die Amerikaner in Leipzig. Doch die Mächtigen in Washington und Moskau hatten im Verlauf der Konferenz von Jalta ihre Reviere bereits abgesteckt und Sachsen samt Leipzig der sowjetischen Einflusssphäre zugesprochen. Die Amerikaner zogen wieder ab, Soldaten der Roten Armee rückten in die Stadt ein.

Es herrschte ein Verbot, auf russische Soldaten zu schießen, auch wenn der Schütze lediglich einen Fotoapparat in Händen hielt. Doch schien dem Rotarmisten ein Mann im Rollstuhl nicht weiter gefährlich zu sein, und so drückte er ein Auge zu, während Mai den Auslöser betätigte. Dabei hatte der Soldat mit der Bewachung des sowjetischen Hauptquartiers in Leipziger Stadtteil Gohlis eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Als Mai ihn aufnahm, hatte der Soldat ein Lächeln im Gesicht und den Finger am Abzug.

Der Leipziger Hauptbahnhof bot Mai Gelegenheit, Motive für seine Arbeit zu finden. Er musste sich nur am Bahnsteig postieren und die ein- oder aussteigenden Fahrgäste beobachten. Dabei war sein Blick auf drei Männer der besiegten Wehrmacht gefallen. Der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen, der Mann in der Mitte musste von seinen beiden Kameraden gestützt werden, während einer von ihnen selbst auf einen Stock als Gehhilfe angewiesen war. Kleidung und Schuhe sahen schäbig aus, aber mit dem Leben waren sie davongekommen, ihre Zukunft jedoch blieb ungewiss.

Fotografien von Trümmerfrauen waren ein gewohntes Bild der Nachkriegszeit. Sie gaben dieser Epoche ihren Stempel auf, wenn auch heute von Historikern in Zweifel gezogen wird, dass sie diese schwere Arbeit im Alleingang meisterten. Gewöhnlich hielten diese Frauen Steine und Werkzeuge vor die Kamera. Karl Heinz Mai bat eine, sich ihm auf eine andere Art und Weise zu präsentieren. Auf dem Bild lächelte sie kokett wie spitzbübisch, für die damalige Zeit ein seltenes Motiv.

Dass Mai die Trümmerfrauen zwischen Ruinen fand, ist nicht weiter erstaunlich. Sich den Weg dorthin mit dem Rollstuhl zu bahnen, erwies sich jedoch als äußerst beschwerlich. Wenngleich bald nach Ende des Kriegs wieder Busse und Bahnen fuhren, konnte er sie mit seinem Gefährt nicht besteigen. So war er darauf angewiesen, selbst einen Weg zu finden. Er legte bei seinen Touren, auf die Kraft seiner Arme vertrauend, weite Strecken in der Stadt und bisweilen selbst auf dem Land zurück, immer auf der Suche nach dem nächsten Motiv.

Beim Fotografieren stand Mai vor einer weiteren Hürde. Nicht nur Nahrung und Heizmaterial waren im Nachkriegsdeutschland zur „Stunde Null“ knapp geworden. Auch Filme galten als schwerlich zu beschaffen und kostspielig zu erwerben. Zudem musste er ohne eigene Dunkelkammer seine Bilder entwickeln lassen und dafür ebenfalls einen Obolus entrichten. Doch sollte sich dieser Umstand zu seinem Vorteil wandeln, lernte er in einem Leipziger Fotolabor seine Frau kennen und fand damit sein Glück.

Karl Heinz Mais Werk ist bis heute lebendig und findet große Anerkennung. Es umfasst etwa 25.000 Aufnahmen und zeugt von seiner außergewöhnlichen Schaffenskraft. Mit zunehmendem Bekanntheitsgrad und von der Qualität der Aufnahmen beeindruckt, erhielt Mai Auftragsarbeiten von Zeitungen, aber auch öffentlichen wie kirchlichen Einrichtungen. Es folgten das Stadtgeschichtliche Museum in Leipzig, das Messeamt sowie das Sächsische Landesamt für Denkmalpflege. Seine Ausstellungen suchten illustre Gäste wie Erich Honecker und Helmut Kohl auf. Ein Dokumentarfilm des MDR aus dem Jahre 2009 beleuchtete Mais beruflichen wie privaten Lebensweg.

Karl Heinz Mai war kein langes Leben vergönnt. Er starb am 9. Mai 1964 mit vierundvierzig Jahren an den Folgen seiner Kriegsverletzung. Doch hatte er nicht nur in seiner Eigenschaft als Fotograf tiefe Spuren hinterlassen. Mit seinem unerschütterlichen, anderen Menschen Respekt einflößenden Lebensmut gründete er eine Familie und hatte mit seiner Gattin einen Sohn. Karl Detlef Mai wurde wie sein Vater Fotograf. Sein reiches und breit gefächertes Bilderwerk erschloss und bewahrte er akribisch auf und machte es der Öffentlichkeit zugänglich. Die dankt es ihm bis heute mit großer Aufmerksamkeit.

Bildquellen:

Sämtliche Bilder des Artikels stammen aus dem Fotoarchiv von Karl Heinz Mai. Herzlichen Dank an Herrn Karl Detlef Mai für die Genehmigung, die Fotos nutzen zu dürfen.

Fachliche Quellen:

https://www.fotothek-mai.de/fotografen/karl-heinz-mai/

https://www.mdr.de/geschichte/fotograf-karl-heinz-mai-100.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Heinz_Mai

Eine Antwort

  1. Martin Zschaler

    Ist doch sehr beeindruckend wie Herr Frank Wünsch alles so schön beschreiben kann!
    Danke für die gut recherchierte Arbeit.
    Ich würde mir öfter Mal so etwas richtig beeindruckendes in einer Zeitung wünschen, aber da gibt es nur immer alles……

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